Sünde 1 - Sprachlosigkeit
Wer seine Vorlieben verschweigt und den anderen im Dunkeln tappen lässt, der begeht eine Sünde. Wer darüber hinaus keinen Einspruch erhebt, wenn die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ignoriert werden, der macht sich einer Todsünde schuldig. Der Gedanke »Das wird schon noch werden« ist so viel wert wie eine mittelalterliche Ablasszahlung.
»Und ich hab immer gedacht, es wird schon noch«
Hamburg: Mareike (36) machte sich Hoffnungen auf Gerd (52).
Dieser Tag fing nicht wirklich toll an. Ich hatte gleich morgens eine Absage auf eine Bewerbung erhalten. Da war ich schon einmal geknickt. Zwar habe ich einen Job – ich arbeite als Finanzberaterin von zu Hause aus –, aber ich wollte mich mit der Bewerbung verbessern. So ein Mist, dabei hatte ich fest mit einer Zusage gerechnet. Dann bekam ich noch zwei ärgerliche Telefonanrufe. »Auf die Arbeit kannst du dich jetzt sowieso nicht mehr konzentrieren«, dachte ich mir und beschloss, zum Friseur zu gehen. Ich erzähl das deswegen so ausführlich, weil ich an diesem Tag überhaupt nicht damit gerechnet hatte, dass mir ein toller Mann über den Weg laufen würde.
Da merkte ich, dass ich mich verliebt hatte
Es war viel los bei meinem Friseur, und ich musste ein bisschen warten. Neben mir saß ein Mann mit Jeans und weißem Hemd. Er blätterte in einer Zeitschrift. »Osttürkei: Wiege der Zivilisation«, stand da. Das war ja interessant. Erst neulich war ich in einer prähistorischen Ausstellung in Karlsruhe gewesen. »Gibt es da was Neues mit den alten Tempeln?«, plapperte ich einfach drauflos und deutete auf den Artikel. Normalerweise spreche ich Leute nicht einfach an, so aufdringlich bin ich nicht. Aber über die Grabungen wusste ich wirklich etwas zu sagen, und so kamen wir ins Gespräch.
Beim Haareschneiden ließen wir den Kontakt nicht abreißen. Immer wieder gegenseitige Blicke über den Spiegel. Irgendetwas war da zwischen uns. Und nicht nur das Interesse an alten Tempeln. »Ich hab noch ein Stündchen Zeit. Trinken wir etwas zusammen?«, fragte er anschließend und deutete auf den Gasthof nebenan. Ich konnte ihn zum ersten Mal genau anschauen. Er war schlank, hatte volles, aber leicht ergrautes Haar und ein Gesicht, das immer in Bewegung war. Sein Lachen kam von tief unten, und es klang herzlich.
Wir saßen an einem kleinen Bistrotisch bei einem Glas Wein. Er hieß Gerd, war Ingenieur und arbeitete in der Nähe. An diesem Tag hatte er früher Schluss gemacht. Seine Augen, die mir schon im Spiegel aufgefallen waren, schauten mich immer klar und direkt an. Ich war einfach hin und weg. »Die nächste Reise ist schon geplant«, erklärte er, »wir fahren morgen für drei Wochen zu den Grabungen in die Osttürkei. Die Ruinen von Göbekli Tepe, die du in Karlsruhe als Nachbau gesehen hast, besuchen wir auch.« – »Wen er wohl meint, wenn er ›wir‹ sagt?«, durchzuckte es mich. – »Ich fahr mit einem befreundeten Pärchen«, erklärte er mir. Ich war erleichtert. Da merkte ich, dass ich mich verliebt hatte.
Dann mussten wir aufbrechen. »Lass uns die Telefonnummern austauschen, ich zeig dir meine Reisefotos, wenn du willst«, schlug er zum Abschied vor. Und wie ich das wollte. Ich wollte es sogar so sehr, dass ich schon wieder etwas Ungewöhnliches tat. Wir standen sehr nah beieinander. Da gab ich ihm einen Kuss. Einfach so. Auf die Lippen. Also keinen Zungenkuss oder so, aber trotzdem. Ich konnte gar nicht anders. Er drückte mich an sich, und das war ein ganz besonderer Moment. Richtig innig. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass jemand Unsichtbares hier die Fäden zog und wir beide gar nicht anders konnten, als in vollem Tempo aufeinander zuzulaufen.
Er gab die Anweisungen, ich befolgte sie
Trotzdem war ich überrascht, als er mich kurz darauf zu Hause anrief. Seine Stimme klang ein bisschen atemlos und hatte einen anderen Klang. Ich stand ja selbst in Flammen, vielleicht klang meine Stimme deshalb auch einladend. Und was soll ich sagen, wir machten doch tatsächlich Telefonsex miteinander. Ich musste gar nichts weiter tun für unser Gespräch. Er gab die Anweisungen, ich befolgte sie.
Ich hatte schon einmal eine Wochenendbeziehung, da haben wir immer mal wieder Telefonsex gemacht. Deswegen war die Situation für mich nicht so ungewöhnlich. Ich kann nicht sagen, dass ich schon bei diesem Gespräch dachte, wir hätten unterschiedliche Vorlieben. Ich wusste nur, dass dieser Mann etwas ganz Besonderes an sich hatte. Aus der Türkei rief er mich regelmäßig an. Trotzdem waren die drei Wochen lang. Ich malte mir ein schönes, romantisches Wiedersehen aus, bei dem wir gemeinsam ausgehen, Wein trinken, uns dann endlich richtig küssen und wahrscheinlich auch miteinander ins Bett gehen würden. Aber sein Vorschlag lautete etwas anders: Ich sollte zu ihm nach Hause kommen. Er werde mir die Augen verbinden und mich fesseln, kündigte er an. Und dann mit mir schlafen.
»Wieso fesseln?«, wollte ich wissen. – »Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Ich tu nichts, was dir nicht gefällt, das ist versprochen.« Ich war für einen Moment ratlos. Da platzte dieser Mann in mein Leben, riss sämtliche Türen ein, und jetzt sollte ich mich fesseln lassen? Konnte ich ihm überhaupt vertrauen? Ich kannte ihn doch gar nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aber ich sagte zu.
Ich gab einer Freundin Gerds Adresse und Telefonnummer und versprach ihr, mich bis Mitternacht zu melden. Wenn nicht, sollte sie die Polizei rufen. Als ich zu ihm ging, war ich sehr aufgeregt und unglaublich scharf. Ich würde Sex mit einem Mann haben, den ich nicht kannte und den ich nicht einmal sehen würde!
Gerd empfing mich im Treppenhaus und legte mir eine Augenbinde um. Ich konnte nicht mehr den kleinsten Lichtstrahl sehen. Dafür arbeitete meine Fantasie umso lebhafter. In seiner Wohnung sollte ich mich nach vorne über eine Art Bock neigen. Es roch nach Leder. Was war das? Womöglich ein spezielles Fesselgerät? Ich war erregt und neugierig. Gerd drückte meinen Oberkörper herunter, schob meinen Rock hoch und befahl mir, mich nicht zu rühren. Und dann plötzlich, ganz unvermutet, gab er mir mit der Handfläche einen festen Schlag auf den Po. Es tat etwas weh, und ich zuckte zusammen. »Du sollst stillhalten«, befahl er und schlug mich zur Strafe auch noch auf die andere Pobacke. Mein Po begann zu glühen. Dann hörte ich ein Klicken. Machte er etwa Fotos von mir in dieser Situation? Jetzt band er meine Hände mit einem Klettverschluss an dem Gerät fest. Aber ich bemerkte erleichtert, dass die Fesseln locker waren. Ich konnte mich also jederzeit befreien. »Es ist nur ein Spiel. Und er weiß, dass es für mich neu ist«, dachte ich erleichtert. Ich bemerkte, dass mich meine Wehrlosigkeit erregte.
Als nächstes hörte ich das Geräusch eines Reißverschlusses. »Zieht er jetzt seine Hose aus? Dringt er in mich ein?«, hoffte ich. Ich spürte etwas Hartes und Kühles zwischen meinen Beinen. »Spreiz die Beine«, befahl er mir. Dann drückte er den Dildo in meine Vagina hinein. »Aber ich möchte doch lieber dich spüren«, sagte ich erstaunt. – »Ich komme, wann ich möchte. Du hast nichts zu sagen.« – Aha.
Ich war so scharf wie nie zuvor in meinem Leben
Wieder hörte ich das Klicken der Kamera. Er musste direkt hinter mir stehen. Und dann war da ein leises Stöhnen. Was machte er? Begann er auf meinen roten Po zu wichsen? Schritte. Ich war mir plötzlich nicht sicher, ob er wirklich noch alleine war. Vielleicht war noch jemand in der Wohnung? Diese Unsicherheit machte mich fast verrückt. Aber sie machte mich auch unglaublich an. Ich war so scharf wie noch nie zuvor in meinem Leben. Er nahm meinen Kopf und drehte ihn zur Seite. »Mach den Mund auf!« Dann schob er seinen Schwanz hinein. Der schmeckte unglaublich gut.
Ich weiß nicht, ob ich das Besondere dieser Situation richtig beschreiben kann. Ich hatte diesen Mann erst einmal gesehen. Wir hatten uns noch nicht einmal richtig geküsst. Und jetzt lag ich gefesselt in seiner Wohnung und machte Oralsex mit ihm. Es war unglaublich.
Dann bearbeitete er mich mit dem Dildo, bis ich zum Höhepunkt kam. Manchmal sagte ich etwas Falsches und bekam wieder einen festen Schlag mit seiner flachen Hand. Und immer wieder hörte ich das Klicken der Kamera oder sein leises Stöhnen. Schließlich sollte ich mich auf den Rücken legen und mich selbst befriedigen. Danach wurde ich wieder gefesselt. Irgendwann bekam ich einen Knebel und konnte nichts mehr sagen. Er machte meine Bluse auf und holte die Brüste heraus. Und endlich drang er in mich ein. Es gab nichts, was ich jetzt mehr wollte. Entgegen seiner herrischen Art von vorhin war er jetzt sehr zärtlich. Und schließlich kam er in mir. Das war ein schönes Gefühl. Jetzt endlich hat er sich mir auch hingegeben… »Du kannst die Augenbinde abnehmen«, sagte er schließlich. Ich machte die Augen auf, und das Erste, was ich sah, waren seine liebevollen großen Augen, die mich aufmerksam anblickten. Und da geschah es schon wieder, dass ich etwas machte, ohne vorher nachzudenken. »Ich liebe dich, Gerd«, sagte ich. Und es war genau das, was ich meinte.
Ich schaute mich um. Die vermeintliche Folterkammer war ein gemütliches Wohnzimmer, der »Fesselapparat« ein Ledersofa. Viele CDs und alte Bücher. Gerd räumte seine Utensilien weg, machte klassische Musik an und holte Sekt. Nichts erinnerte mehr an die Stunden, in denen er mich wie seine Sklavin behandelt hatte. Wir redeten über Beziehungen. Er sagte, dass er immer entweder Frauen traf, die seine Spiele mitmachten, aber sonst ganz andere Interessen hatten als er. Oder Frauen, die wie er auch viel reisten und sich für Geschichte und Kultur interessierten, aber sexuell ganz anders drauf waren. »Und du bist der große Glücksfall, weil du beides magst.« Dann redeten wir noch über seine Reise. Um Mitternacht ging ich heim, um meine Freundin anrufen und sie zu beruhigen. Ich war überzeugt, den Mann meines Lebens gefunden zu haben.
Für mich war mittlerweile eine Grenze erreicht
Wir beide entdeckten eine Menge Gemeinsamkeiten. Wir verbrachten viele Nächte miteinader, es fühlte sich sehr vertraut an. Wir machten Reisen auf den Spuren der Vorfahren, ganz nach unserem Geschmack. Gerd zeigte mir auch viel Neues mit seinen sexuellen Spielen. Er bat mich, hochhackige Schuhe zu kaufen und künftig ohne BH zu ihm zu kommen. Ich sollte meine Haare brav zu einem Pferdeschwanz zurückbinden, aber dafür einen kurzen Rock anziehen. Mir gefiel alles. Nur eines vermisste ich: einfach auch einmal ohne großen Aufwand Sex zu haben, so wie ich es bisher kannte. »Das wird schon noch«, dachte ich mir. »So wie ich von ihm lerne, kann er ja auch von mir lernen.«
Doch nach meinem Empfinden wurden seine Fantasien immer extremer. Er erzählte, dass er früher auch oft Spiele zu dritt hatte. Er mit zwei Frauen. Aber das konnte ich mir bei aller Liebe nicht vorstellen. Die intimen Erlebnisse wollte ich nicht mit jemand anderem teilen. »Ich werde nie etwas tun, was dich verletzt«, beruhigte mich Gerd. Doch ich bekam ein komisches Gefühl. Für mich war mit dem Fesseln und der Unterwerfung mittlerweile eine Grenze erreicht. Weiter wollte ich nicht in diese Richtung gehen. War es für ihn vielleicht erst der Anfang?
Eines Abends wagte ich dann den Vorschlag, dass ich mich auch mal auf ihn setzten könnte. Ich zeigte ihm, dass es mir auch gefiel, wenn er sich auf mich einstellte. Sein Gesicht sah ein bisschen erschreckt aus. Dann wurde sein Schwanz von einem Moment auf den anderen weich, und wir brachen den Sex ab.
Beim nächsten Treffen spielte ich wieder sein Spiel. Ich besuchte ihn, verführerisch angezogen, so wie er es wollte. Aber diesmal zeigte er kein Interesse. »Ich habe heute keine Lust, es tut mir leid, Mareike«, sagte er zerknirscht.
Das geschah nun häufiger. Für uns beide war das eine schwierige Situation, denn wir liebten uns und wollten zusammen sein, aber der Sex klappte nicht mehr so richtig. Doch wir haben uns nie getraut, über das Thema zu sprechen, obwohl wir sonst über alles redeten. Ich befürchtete, dass Gerd den Eindruck hatte, ich würde alles nur ihm zuliebe machen. Aber das stimmte nicht. Seine Art von Sex war für mich allerdings nur eine von vielen Möglichkeiten. Er hingegen konnte wahrscheinlich gar nicht anders Sex haben als auf seine spezielle Art.
Ein paar Mal vermutete ich, dass er nun andere Frauen suchte, die ihm seine Fantasien erfüllten, aber ich wollte es nie so genau wissen. Denn auch ich ließ mich gelegentlich auf jemand anderen ein, was ich ihm zuerst aber auch nicht sagte. Wir waren weiterhin ein Paar. Aber wir hatten keinen Sex mehr. Trotzdem übernachteten und verreisten wir zusammen. Doch irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und gestand ihm mein Verhältnis. Er nahm mich in den Arm und sagte nichts.
Wir haben die Beziehung eigentlich nie richtig beendet, sie lief einfach aus und wurde wie von alleine immer mehr zu einer bloßen Freundschaft. Wir sahen uns seltener. Und eines Tages sagte er mir, dass er sich jetzt schon seit über einem Jahr mit einer bestimmten Frau treffe und sich langsam auch in sie verliebe. »Zumindest unser rasantes Kennenlernen war einmalig«, dachte ich mir. Aber es versetzt mir bis heute einen Stich ins Herz, wenn ich mir vorstelle, wie schön die Beziehung hätte werden können, wenn wir auch auf sexueller Ebene zueinander gepasst hätten.
Oswalt Kolle ganz persönlich
»Es wäre vielleicht etwas zu retten gewesen«
Die Geschichte ist die: Er hat seine Fantasien, die er umsetzen will. Sie macht das anfangs mit, findet es schön, kommt dann aber an ihre Grenzen. Allerdings bekommt sie Angst, ihn zu verlieren, wenn sie nicht weiter mitmacht. Die beiden haben den richtigen Zeitpunkt verpasst, miteinander zu reden. Hätten sie das gemacht, wäre vielleicht etwas zu retten gewesen.
Eine sexuelle Beziehung entwickelt sich, man kann nicht alles vorher klären. So war für Mareike der erste Abend sicher nicht der richtige Moment, das Erlebnis zu besprechen, zumal es beiden ja auch große Lust bereitet hat. Aber im Zuge des Kennenlernens hätte sie schon einmal ein Gespräch über sexuelle Vorstellungen führen sollen, zumal ihr Unbehagen größer wurde. Am besten ist ein Abend geeignet, bei dem man ein Glas Wein trinkt und sich sowieso schon unterhält. Mareike hätte dann fragen können, was diese Fantasien und Praktiken für ihren Freund bedeuten. Oft haben Menschen mit solchen Neigungen früher einmal ein demütigendes Erlebnis gehabt, das sie dann später in der Fantasie und im Spiel mit dem Partner neu erleben – nur dass sie nun bestimmen können, was zu geschehen hat. Und dann hätten Mareike und Gerd eine Szenerie entwerfen können, die ihnen beiden Lust macht. Diese Szenerie muss auch nicht unbedingt real umgesetzt werden. Es ist leichter, die Fantasien erst einmal mit Worten auszuspielen. Mein Vorschlag lautet also: Anne zu erschaffen. Anne könnte dann die zweite Frau für Gerd sein. Sie muss den beiden beim Sex zugucken. Sie könnte sogar eine Sklavin spielen, die von Mareike und Gerd dominiert wird. Die Idee entwickelt sich für Mareike vielleicht sogar als luststeigernd, weil sie auf Anne nicht eifersüchtig sein muss.
Generell ist aber wichtig bei einem sadomasochistischen Spiel: Vereinbaren Sie ein Wort, das der im Spiel untergebene Partner aussprechen muss, wenn er wirklich genug hat. Das Stoppwort darf aber nicht STOPP lauten, weil das Bitten und Flehen ja zum Spiel gehört. Es sollte ein ganz anderes Wort sein, wie Himbeermarmelade oder Sommergewitter. Solche Spiele sind eine Variante der Erotik, vor der niemand Angst haben muss, wenn sie auf freiwilliger Basis geschieht.
Was bedeutet »sich verlieben«, und wie entstehen sexuelle Fantasien?
Die Beziehung zwischen Mareike und Gerd lässt sich auch wissenschaftlich analysieren. Schauen wir uns die drei wichtigsten Stationen noch einmal im Schnelldurchgang an.
1. Mareike befand sich am Tag des Kennenlernens in einer emotional aufgewühlten Situation (sie hat den gewünschten Job nicht bekommen), dann traf sie Gerd und fing Feuer.
2. Beim zweiten Treffen durchlebte sie Höhen und Tiefen. Sie bezweifelte immer wieder, ob sie ihm trauen kann, wurde dann aber wieder positiv bestätigt. Nach dieser »Berg- und Talfahrt« sagte sie ihm, dass sie ihn liebe.
3. Während der Beziehung versuchte sie, auch einmal ihre sexuellen Vorstellungen auszuleben, das heißt, auch einmal dominant zu sein. Von dem Moment an ging es mit dem Sex bergab.
Hier spielen zwei verschiedene Komponenten ineinander. Das eine ist der Mechanismus des Sichverliebens und das andere der Mechanismus von sexuellen Fantasien. Diese beiden Faktoren funktionieren völlig unterschiedlich und gehen auf verschiedene Ursachen zurück.
Starke Emotionen auf einer wackeligen Brücke
Wenn zwei Menschen sich verlieben, gehen dem oft starke Emotionen voraus, die nichts mit der anderen Person zu tun haben. Hierzu gibt es Experimente, so zum Beispiel das klassische Brückenexperiment von Donald Dutton und Arthur Aron aus dem Jahr 1974. Die Wissenschaftler stellten eine junge, hübsche Studentin auf eine schwankende Fußgängerbrücke. Jeden Mann, der die Brücke alleine überquerte, sprach die Studentin an. Sie stellte sich als Gloria vor und bat den Passanten um Hilfe für eine Forschungsarbeit: Er sollte sich jetzt und sofort eine Geschichte zu einem Bild ausdenken, das Gloria ihm zeigte. Anschließend gab es noch ein kurzes Interview, in dem sich jeder Passant zu seinen Gefühlen auf der Brücke äußern sollte. Und schließlich gab Gloria ihm ihre private Telefonnummer, mit der beiläufigen Bemerkung, sich zu melden, wenn noch Fragen bezüglich der Studie beständen.
Für den zweiten Teil des Experiments wurde dieselbe Studentin auf einer breiten und stabilen Brücke platziert. Wieder sprach sie allein daherkommende Männer an, nur mit dem Unterschied, dass sie sich diesmal als Donna vorstellte. Der Rest des Experiments verlief identisch.
Ausgewertet wurde nun die Anzahl der Anrufe, die Gloria (auf der wackligen Brücke) und Donna (auf der stabilen Brücke) erhielten. Bei Gloria riefen neun Männer an (von den 18, die sich die Telefonnummer eingesteckt hatten). Bei Donna waren es nur zwei (von 16 Männern, die ihre Nummer mitgenommen hatten). Gloria ging also eindeutig als Siegerin hervor. Alle Männer auf der wackligen Brücke gaben im Interview an, dass sie die Situation als Angst erregend empfunden hatten. Alle Männer auf der festen Brücke hingegen sagten, sie hätten sich sicher gefühlt.
Nun hatten auffälligerweise deutlich mehr Männer nach einer gefährlichen Situation angerufen als nach einer ungefährlichen. Die Autoren schlossen daraus, dass die Männer offenbar ihre Angst auf der wackligen Brücke als Lust oder Verliebtheit interpretiert hatten. Dies bezeichnet man als »irrige Ursachenzuschreibung« (oder Fehlattribution). Dafür sprach auch, dass die zu dem Foto assoziierten Geschichten im Fall Gloria deutlich stärker sexuell geprägt waren als im Fall Donna.
Zur Kontrolle wurde übrigens auch noch ein männlicher Student auf die beiden Brücken gestellt. Bei ihm war jeweils nur ein Drittel aller Männer dazu bereit, seine Telefonnummer überhaupt anzunehmen, und davon riefen auch nur zwei Männer (wacklige Brücke) beziehungsweise ein Mann (stabile Brücke) anschließend an. Daraus lässt sich schließen, dass das Interesse der Männer, die sich bei Donna und Gloria gemeldet haben, hauptsächlich der Frau galt und nicht der Studie.
Warum wir uns in wen verlieben
Auch die Forscherin Ayala Malach Pines hat den Mechanismus des Sichverliebens weiter untersucht. Dies hat sie zum Beispiel in ihrem Buch »Falling in Love – Why We Choose the Lovers We Choose« beschrieben. Es sind dabei drei psychologische Mechanismen im Spiel:
1. Irrige Ursachenzuschreibung, wie sie – siehe oben – auch das Brückenexperiment bewies. Ein Gefühl – Angst – wird als ein anderes interpretiert, nämlich Lust und Verliebtheit.
2. Reizübertragung, womit gemeint ist, dass die Lust sozusagen auf die erstbeste Person übertragen wird, im Brückenexperiment ist es die interviewende hübsche Studentin.
3. Reaktionsverstärkung, die entsteht, wenn die Situation physischer Erregung, aus welchem Grund auch immer, weiter verstärkt wird. Grundlage dafür ist, dass die »erstbeste« Person tatsächlich anziehend wirkt. Das heißt, die andere Person muss einem schon gefallen, damit eine nachhaltige Reizübertragung vonstattengeht. Erst dann funktioniert die Reaktionsverstärkung beim Verlieben. Und dies insbesondere, wenn man auf die Erfüllung seiner Wünsche warten oder darum kämpfen muss (im Brückenexperiment beispielsweise mussten die Männer eine gewisse Zeit verstreichen lassen, bis sie Gloria oder Donna anrufen konnten). Oder wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud es in dem Buch »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens« ausdrückte: »Es ist leicht festzustellen, dass der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können.« Dieses Prinzip sorgt übrigens dafür, dass zwei junge Menschen, deren Beziehung von den Eltern abgelehnt wird, nun erst recht starke Liebe und großes Verlangen zueinander entwickeln. Auch die Geliebte eines verheirateten Mannes erlebt wegen dessen Unerreichbarkeit eine solche Reaktionsverstärkung.
Übertragen wir diese Mechanismen auf Mareike, sieht die Geschichte so aus: Mareike war aufgeregt. Beim ersten Treffen war sie emotional geladen aufgrund der ärgerlichen Mitteilungen, deretwegen sie das Haus verließ. Und beim zweiten Treffen war sie aufgrund des Wagnisses, einen fremden Mann zu besuchen und sich auf ungewohnte sexuelle Erlebnisse einzulassen, in einem hochemotionalen Zustand. Als sie dann die Augenbinde herunternahm, war Gerd derjenige, den sie als Erstes erblickte. Sie schrieb ihre starken Gefühle diesem Mann zu, der ihr aber natürlich auch wirklich gefiel.
Die irrige Ursachenzuschreibung bedeutet hier, dass Mareike ihre Gefühlswallungen (Ärger beziehungsweise Furcht und Ungewissheit) als eine Art Liebe auf den ersten Blick umdeutete. Reizübertragung heißt, die Liebesgefühle wurden auf Gerd übertragen, der gerade als Projektionsfläche zur Verfügung stand, und zu den Reizen hinzuaddiert, die Gerd zweifelsohne per se für Mareike besaß. Zur Reaktionsverstärkung kam es in dieser Geschichte durch die zwei Wartezeiten: Zum einen musste Mareike drei Wochen auf ein erneutes Wiedersehen mit ihrem Schwarm warten. In dieser Zeit malte sie sich Situationen des Wiedersehens in ihrer Fantasie aus. Und als es endlich zum Treffen kam, musste sie wieder warten, mit verschlossenen Augen und in der Ungewissheit, wann es endlich zu der sexuellen Vereinigung kommen würde.
Re-inszenierte Grausamkeit
Soweit zu einigen Regeln, nach denen wir jemanden attraktiv finden oder uns verlieben. Die sexuellen Fantasien und Praktiken hingegen kommen auf ganz andere Weise zustande. Sie entspringen nämlich einer klassischen Konditionierung. Bekannt geworden ist diese Form des Lernens durch den russischen Physiologen Iwan Pawlow. Er fand heraus, dass ein natürlicher Reiz, der eine angeborene Reaktion oder einen Reflex auslöst, durch einen beliebigen anderen Reiz ersetzt werden kann: Wird etwa einem Hund Futter angeboten, läuft ihm reflexartig das Wasser im Mund zusammen. Dann verbindet man das Füttern mit einem Signal, etwa einem Glockenton. Mit der Zeit wird auch dann die Speichelproduktion angeregt, wenn der Hund nur die Glocke hört, ohne dass Futter im Spiel ist.
Die Sexualforschung überträgt die Erkenntnisse dieses Experiments auf den Menschen. Sie geht davon aus, dass schon Babys und Kinder sexuelle Empfindungen haben. Wenn nun die Eltern mit dem Kind kuscheln, es streicheln oder füttern, können sich beim Kind – ohne dass es beabsichtigt wurde – erste sexuelle Regungen einstellen. Nun wird das Kind die Reize, die zufällig in der Umgebung vorhanden waren (zum Beispiel Musik, ein Geruch oder ein bestimmtes Material), unbewusst als (Mit-)Auslöser seiner Empfindungen speichern. Dies beschreibt sehr konkret die US-amerikanische Sexualtherapeutin Helen Singer Kaplan.
Auch die »härteren« sexuellen Vorlieben scheinen auf diese Weise zu entstehen. Hier könnte es sich um eine »Erotisierung von Kindheitsschmerz« handeln: Singer Kaplan jedenfalls hat festgestellt, dass bei den über 7000 Sexualtherapien, die sie im Laufe von 20 Jahren durchgeführt hat, nicht eine einzige Person mit sadistischen oder masochistischen sexuellen Fantasien, Begierden oder Verhaltensverweisen dabei war, die nicht als Kind einer bedeutsamen Grausamkeit ausgesetzt gewesen wäre. Möglicherweise lassen sich über die Sexualität Tragödien der Kindheit nachträglich in sexuelle Triumphe umwandeln, wie es der Forscher John Money beschreibt: Als Kind ist man der Grausamkeit, die einem zugefügt wird, hilflos ausgesetzt. Im Erwachsenenalter werden die Erlebnisse re-inszeniert, aber jetzt hat man selbst die Zügel in der Hand. Egal ob man dann später die dominierende oder die Untergebenenrolle im sexuellen Spiel einnimmt, es ist nun eine freiwillige Angelegenheit, die man jederzeit beenden kann. Vermutlich sind Gerds Rollenspiele in Mareikes Geschichte auf eine solche Konditionierung in der Kindheit zurückzuführen.
Viele Menschen empfinden sexuelle Fantasien als belebend. Frauen entwickeln sie offenbar sogar häufiger als Männer, obwohl sie selten darüber sprechen. Dies hat die US-amerikanische Autorin Nancy Friday bei ihren Recherchen herausbekommen. Viele Frauen brauchen anscheinend diese Fantasien, um zum Orgasmus zu kommen. Sie träumen dabei von völlig anderen Situationen als Männer: Sie selbst stehen – rücksichtslos und ungehemmt – im Mittelpunkt ihrer Wünsche.
Sie sehen: Beim Verlieben spielt die gegenwärtige Lebenssituation eine entscheidende Rolle. Bei der Ausprägung von Fantasien und Verhaltensweisen sind kindliche Erlebnisse unbewusst im Spiel. Hier hat die Evolution leider noch kein Schema entdeckt, um uns davor zu schützen, uns in die falsche Person zu verlieben. Das würde uns sicher viel Kummer ersparen. Und so hilft es nur, in einer Beziehung auch über sexuelle Angelegenheiten zu sprechen. Das hätte möglicherweise auch Mareikes Verbindung mit Gerd gutgetan.
Der heiße Tipp
Wie Sie Ihrem Partner eine unbekannte Seite eröffnen
Wir reden über alles, nur nicht über das, was uns wirklich im Innersten betrifft. Sexualität gehört zu den Tabuthemen, denn hierüber zu sprechen, bedeutet auch, seine Gefühle und Ängste, seine Scham oder Verletzungen mitzuteilen. Doch wie die Geschichte oben zeigt, ist es wichtig, zu sagen, was zu sagen ist. Und das lernen Sie so:
Legen Sie gemeinsam einen Wochentag und eine Uhrzeit fest, zu der Sie sich beide 20 Minuten Zeit füreinander nehmen. Jeder von Ihnen hat zehn Minuten Redezeit. Sie beginnen abwechselnd. Wenn das erste Mal Partner A das Wort zuerst ergreift, dann tut dies beim zweiten Mal Partner B. Partner A spricht nun über das, was ihn bedrückt, was er loswerden möchte, was ihm auf der Seele liegt. Partner B unterbricht ihn nicht, sondern schweigt, aber hört mit großer Aufmerksamkeit zu. Er bemüht sich, seinen Geist und seine Gefühlsantennen zu öffnen, damit er begreift, was der andere mitteilen möchte. Nach zehn Minuten wird getauscht. Partner B kann nun auf das soeben Gehörte eingehen, aber er kann auch selbst sagen, was ihm auf der Seele liegt. Wenn Sie diese Übung von Anfang an machen, dann bilden sich gar nicht erst große Missverständnisse heraus. Denn Sie trainieren von Anfang an, über sich selbst zu sprechen. Wählen Sie einen neutralen Ort, etwa den Küchentisch. Das Bett ist tabu für solche Gespräche, es sollte anderen Tätigkeiten vorbehalten bleiben.
Wenn Sie auf diese Weise miteinander gesprochen haben, dann nehmen Sie sich anschließend in den Arm. Berühren Sie sich aber nicht so, wie sich zwei gute Freundinnen begrüßen, mit einem Bussi auf die Wange, Becken und Oberkörper weit voneinander entfernt. Umarmen Sie sich intim wie zwei Liebende. Ihre Körper berühren sich der gesamten Länge nach: Schenkel an Schenkel, Becken an Becken, Bauch an Bauch, Kopf an Kopf. Lassen Sie Ihre Körper auf diese Weise zueinander sprechen. Damit gewinnen Sie das Vertrauen, dass die Liebe immer noch vorhanden ist, egal worüber vorher gesprochen wurde.
Wenn es Ihr Anliegen ist, über sexuelle Diskrepanzen zu sprechen, dann sollten Sie bei sich beginnen. Sagen Sie also nicht: »Was du im Bett machst, ist ja widerwärtig.« Sondern formulieren Sie, was Sie dabei empfinden. Beschreiben Sie mithilfe des eben vorgestellten Rituals, was Sie empfinden, wenn Sie gefesselt werden oder eine zweite Frau ins Bett holen sollen. Beschreiben Sie Ihre schönen Empfindungen, aber auch Ihre Ängste. Vermeiden Sie jede Andeutung von Vorwurf und Anklage. Wenn die Gefühle ehrlich dargelegt werden, besteht auch die Chance, miteinander einen gemeinsamen Nenner zu finden, der beide Partner befriedigt und beglückt.
Es gibt auch Fälle, in denen kein Kompromiss machbar ist. Die Chance, dass sich jemand wie Gerd mit seinen festgelegten Vorlieben umstellt, ist gleich null. Hier aber helfen die ritualisierten Gespräche, dass zwei Partner zueinander Vertrauen aufbauen und es stärken. Und das wiederum hilft, die Vorlieben des anderen zu akzeptieren.
Vielleicht aber merken Sie, dass Sie in sexueller Hinsicht überhaupt nicht zueinanderpassen. Dann bleibt – neben der Trennung – immer noch die Möglichkeit, dass Sie als Paar zusammenbleiben und nur die Sexualität aus der Beziehung auslagern.